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Die Grenze im Kopf - Vortrag am 12. Juli 2023

Martin Klatt erforscht seit Jahrzehnten das Gruppendenken in der heutigen Grenzregion (Foto: ECMI)

Die Volksabstimmung 1920 und ihre Folgen für Denken und Bewusstsein

Schubladen erleichtern das Leben. Man weiß im Idealfall, was man wo findet. Umgekehrt sorgen Schubladen auch dafür, dass man nebeneinander liegende Einzeldinge plötzlich als feste Einheit wahrnimmt. In Bezug auf Menschen scheint das ähnlich zu sein: Für rund tausend Jahre war die Bevölkerung im Herzogtum Schleswig ein Konglomerat: Unterschiedliche Sprachen, soziale Schichten, Wirtschaftsweisen, familiäre Netzwerke und Verflechtungen auf verschiedensten Ebenen – recht unübersichtlich, könnte man meinen. Aber es hat funktioniert. Bis irgendjemand auf die Idee kam, zu sortieren. Das Denken in nationalen Schubladen verbreitete sich im 19. Jahrhundert rasant. Die Vielfalt, die jahrhundertelang der menschliche Normalfall war, wurde immer mehr sortiert. Nicht nur die Sprache Friesisch fand dabei keine eigene Schublade, sondern musste sich der einen oder anderen zuordnen. Auch soziale Unterschiede wurden nun anders gedeutet: Mit einem Male war die ärmere Landbevölkerung, die den Dialekt Sönderjysk sprach, nicht mehr einfach nur die ärmere Landbevölkerung, sondern dänisch. Umgekehrt sahen sich viele plattdeutschsprechende Städter immer mehr als Deutsche. Aus Miteinander wurde Abgrenzung, aus Abgrenzung teils erbitterte, politische Feindschaft. Den Höhepunkt dieser Sortiererei bildete die Volksabstimmung 1920, die zur Teilung der Region führte. Beiderseits der Grenze blickte man nun vermehrt auf den Nationalstaat. Auch wenn man familiär verbandelt war, auch wenn Wirtschafts- und Verkehrsräume viel länger eine Einheit gebildet hatten als sie inzwischen getrennt sind: Was anfangs nur eine Verwaltungslinie war, wurde immer mehr zu einer tatsächlichen Grenze im Bewusstsein: Hier leben Deutsche, hüben Dänen. Im Zuge der Europäischen Einigung wurde diese Linie in der Landschaft zumindest für einige Zeit unsichtbar und im Alltag immer unbedeutender. Aber offensichtlich fühlten sich manche gerade damit unwohl. Der unübersehbare Wildschweinzaun und die Grenzkontrollstätten, die es seit einigen Jahren an den Straßen wieder gibt, dürften genau hierfür stehen. Die und wir – was macht eine Grenze mit dem Denken? Handelt es sich bei einer neuen Grenze nur um das Nachzeichnen von tatsächlichen Gegebenheiten in der Bevölkerung? Oder sorgt die Grenze selber erst dafür, das normale Unterschiede sich verstärken, mit Bedeutung aufgeladen und festgeschrieben werden? Darüber spricht Martin Klatt am 12.7. im Rahmen des 31. Nordfriesischen Sommerinstituts. Klatt ist Professor für Grenzlandforschung an der Syddansk Universitet in Sonderburg und zudem seit 2022 Abteilungsleiter für die Erforschung der deutsch-dänisch-friesischen Grenzregion am European Centre for Minority Issues (ECMI) in Flensburg. Mit diesem Vortrag möchte er sich und seine Arbeit der Bevölkerung Nordfrieslands vorstellen.

Die Nord-Ostsee Sparkasse unterstützt diese Reihe, in welcher aktuelle Forschung öffentlich präsentiert wird. Der Eintritt ist frei, es wird um eine Spende gebeten. Beginn ist um 19 Uhr 30 im Nordfriisk Futuur, Süderstr. 30 in Bredstedt.